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Das war der Beginn meiner Integration in die Radley-Familie. Es wurde als selbstverständlich erachtet, dass ich meine Wochenenden dort verbrachte: Lexi hatte früher dasselbe mit ihrer Freundin Ruthie getan, wie sie uns gern erzählte.
»Was ist eigentlich aus Ruthie geworden?«, fragte Frances ihre Mutter, nachdem ihre beispielhafte Freundschaft an einem einzigen Abend ein halbes Dutzend Mal beschworen worden war.
»Ich weiß nicht«, kam die unromantische Antwort. »Wir sind uns nach der Schule fremd geworden. Wie‘s halt so ist.«
Frances und ich wechselten einen Blick. Damals musste alles anders gewesen sein: Es bestand keine Möglichkeit, dass wir uns »fremd werden« könnten.
Die Einzigen, die sich nicht für das neue Arrangement begeistern konnten, waren meine Eltern. Auf ihre zivilisierte Art kamen sie nicht besonders gut miteinander aus und brauchten mich als Ablenkung. Da sie nie stritten oder Meinungsverschiedenheiten hatten, war schwer festzustellen, worin genau der Grund für ihre Ernüchterung lag, ich war mir nicht sicher, ob die Kühle zwischen ihnen schon immer existiert hatte und mir erst jetzt, wo ich älter war, auffiel, oder ob sie neueren Ursprungs war. Ein Zankapfel zwischen ihnen war die Zeit, die mein Vater in sein Projekt steckte, ein sich ständig erweiterndes Werk, das ihm reichlich Möglichkeiten zum Verschwinden bot, weil er irgendwo recherchieren musste oder sich lange in seinem Arbeitszimmer aufhielt. Obwohl meine Mutter zweifellos froh war, ihn nicht »vor den Füßen zu haben«, ein Ausdruck, der mich an einen Falten werfenden Teppich erinnerte, machte die Vagheit all seiner Bemühungen sie wütend: Es war nicht so, wie wenn man Quittengelee kochte, den man essen oder auf dem Kirchenbasar verkaufen konnte, oder wie Bügeln, das einfach erledigt werden musste. Es wurmte sie, dass etwas, was so offensichtlich ein Hobby war, den Status von Arbeit angenommen hatte.
In dieser Zeit erreichte die Sauberkeitsmanie meiner Mutter ihren Höhepunkt. Wenigstens schien es so. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich in der Zeit gerade dem Radley-Haushalt ausgesetzt war, wo ein weniger strenges Regiment herrschte. Besucher, die in unser Haus kamen, schmeichelten meiner Mutter mit der Bemerkung, sie hätten ihr Abendessen vom Küchenboden essen können: Bei den Radleys sah es normalerweise so aus, als hätte das gerade jemand getan.
Mutters neueste Errungenschaft im Kampf gegen den Schmutz war ein Teppichreiniger, den sie auf einem Kirchenbasar erstanden hatte. Es war ein blassgelber Plastikapparat, wie ein kleiner Handstaubsauger, den man mit einem speziellen Shampoo füllen und vor und zurück über den Boden ziehen musste, wobei er Schaumspuren wie Speichel hinterließ. Sie war ganz vernarrt in diese Maschine, und eine Weile gab es immer wenigstens einen Teppich im Haus, der nach chemischer Seife roch und sich feucht und moosig anfühlte. Die Hausarbeit wurde eine Art Zuflucht für sie: Während eine theatralischere Person oder eine, die weniger migräneanfällig gewesen wäre, vielleicht ihre Frustrationen in ein Klavier gehämmert hätte, griff Mutter zu Mopp und Staubtuch. Eines Morgens schaute ich aus meinem Schlafzimmerfenster und sah, wie sie versuchte, bei starkem Wind den Weg vorm Haus zu kehren. Da war sie, mit zusammengebissenen Zähnen, und schwang ihren Besen, während Staub, Sand und heruntergefallene Blüten um sie herumwirbelten.
Ich erinnere mich auch an eine andere Gelegenheit, die bei meinen Eltern zu ihrer Version eines Streits führte. Es war ein sonniger Sonntag im Mai, und ich war früh von Frances zurückgekommen, um unsere Hausaufgaben zu erledigen. Es war sicherer, beide anzufertigen, als Frances abschreiben zu lassen, weil sie entweder meine bis aufs letzte Detail abpinselte und wir beide Ärger bekamen, oder bei dem Versuch, ihrer Version eine persönliche Note zu geben, absichtlich so lächerliche Fehler einbaute, dass es meine Bemühungen sinnlos machte. Ich hatte gerade auf die Schnelle den Lebenszyklus der Lebermoose erledigt und war nach unten gekommen, um eine Teepause einzulegen. Im Wohnzimmer war meine Mutter dabei, die frisch gewaschenen Tüllgardinen zu bügeln, und Vater stand an den nackten Fenstern und sah die Straße hinauf.
»Das Zimmer sieht ohne Tüllgardinen ziemlich hübsch aus«, bemerkte er geistesabwesend. »Man kann nach draußen sehen.«
»Und die Leute können reinsehen«, sagte Mutter und bügelte ein bisschen heftiger.
»An dieser Straße kommen nicht viele Leute entlang«, bemerkte Vater. »Außerdem ist es ja nicht so, als würde jemand gegenüber wohnen.« Als das Haus am Ende der Sackgasse blickten wir auf die Grünfläche und die ganze Straße entlang.
»Es wäre so, als würden wir in einem Goldfischglas wohnen«, sagte Mutter, legte den ersten Vorhang der Länge nach auf die Couch und nahm den nächsten in Angriff. »Jeder, der vorbeigeht, könnte jeden Flecken an der Wand sehen.« Als ob da irgendwelche Flecken wären!
»An einer Hauptstraße wäre es etwas anderes«, räumte Vater ein.
»Die Radleys wohnen an einer Hauptstraße, und sie haben keine Tüllgardinen«, warf ich ein.
»Tja, Tüllgardinen brauchen viel Pflege«, sagte Mutter spitz. Sie schien die Vorstellung zu haben, offensichtlich auf Grund einer unvorsichtigen Bemerkung meinerseits, dass die Radleys in Schmutz und Elend lebten - was unfair war: Frances und ich kümmerten uns oft um den Haushalt.
»Man fühlt sich durch sie so eingeschlossen«, sagte Vater, als Mutter anfing, die Vorhänge wieder auf die vulkanisierte Gardinenstange aufzufädeln.
»Tja, ich habe heute den ganzen Tag damit verbracht, sie sauber zu machen«, sagte Mutter mit einer Stimme, die gleichzeitig mild und stur war. »Also kommen sie wieder dran.« Und sie stieg von der Couch aufs Fensterbrett, wobei sie meterweise Tüll hinter sich herzog wie einen Fächer, und hakte sie wieder da hin, wo sie hingehörten, wie eine Armee, die ihr Banner hochzieht.
Die Einseitigkeit meines Arrangements mit Frances verstieß gegen das Anstandsgefühl meiner Mutter. »Wieso bringst du sie nie mit hierher?«, fragte sie eines Samstags, als ich ein paar Klamotten in eine Reisetasche stopfte. »Sie können dich schließlich nicht jede Woche ernähren.« Ich erzählte ihr nicht, dass wir uns meist selbst ernährten und eigentlich auch sie. Ich konnte ihr auch nicht den wahren Grund dafür sagen, warum wir immer zu Frances gingen. Wir hatten dort einfach mehr Spaß. Bei uns passierte nichts, während bei den Radleys immer etwas los war: Immer kam oder ging gerade jemand, der von neuen Abenteuern oder Katastrophen zu berichten wusste.
Growth und Auntie Mim waren die einzigen Mitglieder des Haushalts, die garantiert immer da waren. Letztere trafen wir manchmal in der Küche vor einer grün schäumenden Pfanne Rosenkohl. Sie kochte das Gemüse mit so viel Natron, dass es, wie Lexi sagte, ernährungswissenschaftlich gesehen überhaupt keinen Wert hatte und es ein Wunder war, dass Tantchen noch keinen Skorbut hatte. Rad war samstags oft weg, spielte Rugby, schwamm oder nahm an Schachturnieren teil. Er schien keine Freundin zu haben oder irgendein Interesse, eine zu finden - für Frances, die ihn liebend gern aufzog, Anlass zu großer Heiterkeit. »In Rads Schule gibt es nur ein Mädchen«, sagte sie immer. »Und sie kommt nur zum Werkunterricht. Wie ist sie denn so, Rad?«
»Fett, hässlich und dumm«, antwortete Rad dann, worauf Frances erfreut in schallendes Gelächter ausbrach.
Wenn er zu Hause war, blieb Rad meist in seinem Zimmer. Manchmal warnte uns ein Rascheln aus der Speisekammer, dass er auf Streifzug war, und unter dem Vorwand, aufs Klo zu gehen, versuchte ich dann, ein Treffen auf der Treppe zu arrangieren, um eventuell Empfängerin eines knappen »Hallo« zu werden, das mir dann nächtelang Stoff für gequälte Träume lieferte. Natürlich zeigte er nie das geringste Interesse an mir. Ich wagte es nicht, Frances von meiner Vernarrtheit zu erzählen, weil sie es Rad sicher verraten hätte, wahrscheinlich in meiner Gegenwart, eine Demütigung, für die als Heilmittel nur Selbstmord in Frage gekommen wäre.
Wegen seiner seltsamen Arbeitszeiten verschlief Mr. Radley normalerweise einen Teil des Tages, und um sein Schlafzimmer herum hatte Ruhe zu herrschen. Ich hatte inzwischen von Frances erfahren, dass er einst einen anständigen Beruf im Staatsdienst gehabt hatte, aber seit ein paar Jahren hatte er von kurzfristigen Gelegenheitsarbeiten gelebt, die letzte davon Hotelboy in einem Londoner Hotel. Wenn er auf den Beinen war, kam er oft in Francés‘ Zimmer, um ihr irgendeine lächerliche Frage zu stellen, wie zum Beispiel nach dem Verbleib eines speziellen Nahrungsmittels, das aus dem Kühlschrank verschwunden war, und blieb schließlich stundenlang, um uns von seiner Arbeit zu erzählen oder uns wegen der Schule ins Kreuzverhör zu nehmen. Er genoss es, wenn wir ihm Fragen stellten, und war nie um eine Antwort verlegen, aber irgendwie hatte ich kein großes Vertrauen in seine Erklärungen. Wenn mein Vater etwas erklärte, hatte man das Gefühl, von der Oberfläche eines tiefen Brunnens zu trinken, während man sich bei Mr. Radley des Gefühls nicht erwehren konnte, dass das, was man bekam, alles war, was vorhanden war - und ein bisschen mehr und wenn man nur ein wenig nachhakte, wäre er völlig ausgetrocknet. Ich wurde aus ihm nicht schlau: Er schien gern in Gesellschaft junger Leute zu sein, und trotzdem waren sie seiner Meinung nach verantwortlich für alles Übel in der Welt. »Die Jugend ist an die jungen Leute vergeudet«, sagte er gern, besonders wenn er uns beim Faulenzen vor dem Fernseher erwischte, oder wenn wir uns über Langeweile beklagten. Von ihm stammte auch mein Spitzname Blush, die Errötende der hängen blieb, wie es nur die gemeinsten oder passendsten tun.
Lexi konnte den ganzen Tag im Wohnzimmer residieren, wo sie eine Reihe von Besuchern bewirtete. Clarissa oder andere Golffreunde konnten auftauchen, gefolgt von Lawrence, einem gut aussehenden Mann, der als Lexis Freund vorgestellt wurde. Jeder, der nicht mit ihr blutsverwandt war, wurde von Lexi als »Freund« oder »Freundin« bezeichnet, deshalb war das kein Anlass, misstrauisch zu sein. Außerdem schien Lawrence mit Mr. Radley auf bestem Fuß zu stehen, eine weitere Beruhigung. An Nicht-Besuchstagen wurde ein kurzer, aber gewaltiger Angriff auf die Hausarbeit gestartet. Dann fegte Lexi wie ein Tornado durchs Haus, hob Sachen auf, die jemand fallen gelassen hatte, und feuerte sie ins Schlafzimmer des Besitzers, während Frances ihr mit dem Staubsauger folgte, der auf dem teppichlosen Boden schrecklichen Lärm machte. Holzmöbel wurden kurz mit einem wachsweichen Staubtuch abgewischt, und alles über Augenhöhe wurde liegen gelassen, bis es verfaulte. Abends zog Lexi sich schick an, rollte ihre Haare auf heizbare Lockenwickler und schwebte auf einer Wolke Moschusparfüm zum Dinner. Gelegentlich spielte sie selbst Gastgeberin, und Frances und ich wurden dafür bezahlt, die Gäste zu bedienen, Essen und Getränke zu servieren und abzuwaschen. Wegen seiner unsozialen Arbeitszeiten war Mr. Radley selten mit von der Partie.
Nachdem ich ein paar Mal bei ihnen gewesen war, wagte ich es, mich nach der mysteriösen dritten Tür auf dem obersten Treppenabsatz zu erkundigen.
»Das ist Dads Studio. Er geht ab und zu hoch, um zu malen und so.«
»Was denn? Ölgemälde?«
»Ja, du weißt schon, Porträts und so.«
»Du meinst, er ist Künstler«, sagte ich beeindruckt. Ich hatte schon geahnt, dass er mehr war als nur ein großer Hotelboy. »Wieso hast du mir das nie erzählt?«
»Na ja, er ist kein richtiger Künstler«, sagte sie. »Es ist nur ein Hobby. Ein paar von seinen Sachen sind ein bisschen verrückt. Willst du mal sehen?«
Als Frances die Tür mit der Schulter berührte, öffnete sie sich zitternd und setzte einen trockenen Geruch nach Holz und Terpentin frei. Der Boden war teppichlos und voll mit getrockneten Farbklecksen. An einer Wand stand eine Holzbank voller Gläser mit Pinseln und Palettenmessern, Zeichenkohle, ausgedrückten Farbtuben und zerknitterten Stofflappen. Im Licht des Fensters standen eine Staffelei und eine leere Leinwand, und in der Mitte des Zimmers befand sich ein niedriger Sessel, der mit einem schmuddeligen weißen Laken bedeckt war. An einer Wand lehnten einige Gemälde. Frances fing an, sie durchzusehen. Ich spähte ihr über die Schulter. Es waren alles ziemlich verkleckste Akte: Einer davon sollte offensichtlich Lexi darstellen, aber die anderen waren die unterschiedlichsten Leute, Männer und Frauen, ein paar alte Menschen, in sonderbaren Farben.
»Ein bisschen fleckig, was?«, sagte Frances kritisch. »Er muss eine Menge Farbe verbrauchen.«
»Erfindet er die einfach oder was?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Truppe Nackedeis durch die Dachkammer marschierte, nur um sich in Orange- und Grüntönen malen zu lassen.
»Nein, du Trottel, er geht zu Aktmalkursen. All diese Leute wie Dad sitzen rum und ziehen sich abwechselnd aus.«
»Nein!«
»Ich denke, so läuft es. Wo sollte man sonst die Leute herkriegen?«
»Wie peinlich! Wieso angezogene Leute malen?«, fragte ich. »Er benutzt ja sowieso keine fleischfarbenen Töne.«
»Künstler malen Leute immer nackt. Vielleicht ist es schwieriger oder leichter oder so«, sagte Frances. »Also«, fügte sie warnend hinzu, »wenn er dir je anbietet, dich zu malen, weißt du, was du sagen musst.«
»Ist dein Dad denn auf die Kunstakademie gegangen?«, fragte ich, als wir uns wieder nach unten begaben.
»Nein«, sagte Mr. Radley, der aus seinem Schlafzimmer kam, was mich zusammenzucken ließ. »Ich war nicht klug genug für die Akademie«, sagte er mit gespielt bescheidener Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass er sich ganz im Gegenteil für viel zu klug hielt.